Sie schaffen es gerade noch auf die U-Bahn zu kommen, Sie ergattern einen Platz und dann setzt sich eine verkabelte Zeitgenossin neben Sie und Sie hören fortan das „Tschg-tschg-tschg-puh-puh-puh-tschg-tsch“ aus ihren Kopfhörern. Warum steigt die öffentliche Lärmbelästigung immer mehr an? Ist es die Unterhaltungstechnik, die steigende Schwerhörigkeit oder die Sucht nach Aufmerksamkeit? Fragen und mögliche Antworten …
Es ist viertel vor acht in der Früh, Sie ergattern einen Platz in der U-Bahn und sind momentan gnädig gestimmt. Bei der nächsten Station setzt sich eine verkabelte Zeitgenossin neben Sie und Sie hören fortan das „Tschg-tschg-tschg-puh-puh-puh-tschg-tschg…“ das aus ihren Kopfhörern zu Ihnen strömt. Sie versuchen sich auf Ihre Lektüre zu konzentrieren, da beginnt weiter vorne jemand laut zu telefonieren, so dass Sie nicht nur ihn hineinschreien, sondern auch die gebrochene Stimme des Gesprächspartners zurückplärren hören. Am Abend wird das Szenario ergänzt durch Gruppen von jungen Menschen, die lieber gar keine Kopfhörer verwenden und ihre Videofilmchen gleich mit ihrer Umgebung sharen.
Nun gibt es Leute, die den Waggon wechseln in der Hoffnung, dass es besser wird. Jede, die öfters Öffi fährt, weiß, dass das total sinnlos ist. Natürlich sind die allermeisten Öffi-Benutzerinnen wohlerzogen und benehmen sich rücksichtsvoll gegenüber der Fahrgemeinschaft, doch leider gibt es in fast jedem Waggon jemanden, der nicht dazugehört. Und eine(r) reicht. Einer, der kopfhörerlos Videos anschaut, vor sich hin singt oder so laut – auch mit Kopfhörern – Musik hört, dass man es am anderen Ende des Abteils hört, und die Ruhe ist für alle dahin.
Ist das nicht verboten? Nein.
Die Frage ist nun: Ist das nur nervig, oder ist es eigentlich verboten? Von den Wiener Linien gibt es die „Hausordnung“, da wird etwas vage vorgeschrieben, dass es „ein gewisses Maß an Regeln und Rücksicht“ brauche, das heißt bezüglich Audioemmisionen, man werde gebeten, nicht „zu lärmen und/oder zu musizieren“. Seit Oktober letzten Jahres gibt es die „Fahr fair“-Kampagne, die das ein wenig präzisiert: Lautes Musizieren und Musikhören sind ebenso wenig erwünscht wie lautes Telefonieren oder lange Gespräche. Außerdem wird daran erinnert, dass Kopfhörer nicht alles abschirmen.
Mobiles Musikhören gibt es ja nun schon ein paar Jahrzehnte, also warum steigt die Lärmbelästigung immer mehr an? Weil es immer mehr portable Unterhaltungstechnik gibt? Weil Teile der Bevölkerung immer schwerhöriger werden? Oder ist es immer mehr Leuten egal, wenn sie andere stören? Wollen sich immer mehr Menschen ihrer Umgebung irgendwie mitteilen – gefragt oder ungefragt? Spuren hinterlassen, nicht nur im Web, sondern auch im Alltag?
Grenzen zwischen privat und öffentlich verschwimmen
Oder ist es einfach so, dass die Grenze zwischen dem, was privat und was öffentlich ist, immer mehr verschwimmt? Wenn die Mehrheit, von der Zehnjährigen bis zum Senior, eine Facebook-Präsenz hat und vom Windelwechseln bis zum Familienurlaub und dem Jahresabschlussball alles mindestens semi-öffentlich ist, dann ist es vielleicht nicht mehr selbstverständlich, dass die Füße in der Straßenbahn nicht auf den gegenüberliegenden Sessel gehören, bloß weil das zu Hause geht.
Oder ist es die Sehnsucht danach, die Banalität des Alltages abzustreifen und wahrgenommen zu werden? Dafür spricht das weitverbreitete Bedürfnis, jede noch so kleine und unwichtige Handlung festzuhalten. Jener Drang zwischen Tagebuchintimität, Dokumentation des eigenen Lebens und Mitteilungsbedürfnis gegenüber der Welt, der sich in diversen Plattformen wie Pinterest, Facebook, Instagram, Snapchat oder YouTube ergießt. Jeder (s)ein Paparazzo, jede eine Celebrity. Dafür eignen sich auch die Öffis: Jugendliche filmen sich beim U-Bahn-Fahren, beim Lachen, beim Posten – alles ist wichtig, muss aufgenommen und geteilt werden. Die Manifestation des eigenen Seins, oder wie es eine etwa 17-Jährige in der U3 mit leuchtenden Augen zu ihrem Begleiter sagte: „Diese Gruppe, wo ich jetzt drin bin, die gibt mir so viel Attention, und ich bin so ‚ICH LIEBE EUCH‘!“
Attention please!
Also ist es doch nicht die Vielfalt der Unterhaltungstechnologie, nicht das Unvermögen oder der Unwille zwischen Privatem und Öffentlichem zu unterscheiden. Nicht das Bedürfnis, der wenig glamourösen Banalität der vorbeiziehenden Gründerzeithäuser oder der Dunkelheit des Tunnels zu entfliehen, sondern ein „Hey! Ich bin HIIIIEEERR! Schaut mich an, gebt mir Attention!“ Es gibt keine Räume mehr, die Bestimmungen und Regeln haben, „öffentlich“ und „privat“ sind obsolet geworden. Es gibt nur mich und jeder Raum wird meiner, wenn ich ihn betrete. Öffentlicher Raum heißt Publikum, Audience, eine Chance Attention zu bekommen. Das eigentliche Leben spielt sich in den Smartphones auf Plattformen ab, die mit Bildern, Emoticons und ein paar Worten gefüttert werden. Dort musst du punkten und ohne Bilder bist du NICHTS! Fotos, die zeigen, dass du ein Leben, dass du Freunde hast, dass du dich was traust, dass du fit bist. Das wird bezahlt mit Aufmerksamkeit. Who cares about the rest?
Nun, was sollen Öffi-Benutzerinnen tun, die weder Attention haben, noch geben wollen? Vielleicht weil ihre Aufmerksamkeit gerade bei einem Buch, bei einem Gedanken oder auf dem eigenen Handydisplay ist? Den Lärm zu ignorieren, ist nicht effektiv, es jedem zu sagen, hieße keine Fahrt in den Öffis mehr ohne fremde Menschen zum Leisersein aufzufordern, was – erprobterweise – nur bedingt von Erfolg gekrönt sein wird. Vielleicht könnten die Wiener Linien einfach einen grellbunten blinkenden Waggon pro Zug machen, „Zug A –Attention Train“, damit der Rest der Öffi-Benutzer wieder etwas von gegenseitigem Respekt und Rücksichtnahme hat.